(Kapitel: „Der Kieselsteineffekt“)
(Textauszug aus dem Roman zur Musikalischen Biografie)
Ich bin wieder zuhause angekommen und klopfe aus meinen Laufschuhen die lästigen Kieselsteine heraus. Diese winzigen Steine fühlten sich gerade noch wie Wander-Felsen unter meinen Füßen an. Seit meiner Kindheit kenne ich dieses störende Laufgefühl. Nur im Gegensatz zu den heutigen fersengedämpften Hightech-Sportschuhen, konnten sich damals die steinigen Vorfahren barrierefrei, in meine einfachen Sandalen, Zutritt verschaffen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie oft ich die braunen Lederriemen, die an der Hartgummisohle vernäht waren, öffnen musste, um mich so von den Plagegeistern befreien zu können. Insofern ändern sich manche Dinge nie und spielen im Leben wohl immer eine Nebenrolle.
Es waren aber auch die gleichen Sandalen, die mich in meinem dreizehnten Sommer zu meinem Schlüsselerlebnis getragen haben. Die Sonne schien noch kräftig am Nachmittag auf mein frisch gebügeltes FDJ-Hemd, als ich auf dem Weg zur Schule war. Der Freie Deutsche Jugendverband, der fast alle Kinder aus der Pionierorganisation erbte, hatte mich schon mit so manchen plakativen Veranstaltungen genervt. Aber heute trugen mich meine Sandalen und das Blauhemd zu einer außerschulischen und vor allem freiwilligen Veranstaltung. Denn heute soll ein absoluter Megastar zu uns in die Schule kommen. Frank Schöbel. Bislang kannte ich ihn nur aus dem Radio oder dem Fernsehen. Selbstverständlich hatte ich auch Schallplatten von ihm, in meiner Sammlung, die ich vom Taschengeld kaufen konnte. Meine heimliche Textsicherheit machte mich zugleich auch zu einem heimlichen Fan von ihm. Er war für mich sehr präsent, trotz meines spärlichen Medienkonsums. Und heute soll ich diesen Star persönlich treffen? Meine Vorfreude teile ich mit weiteren zwanzig Schülern aus meiner Klassenstufe. Zusammen sollen wir heute Neues über seine Langspielplatte „Wovon ich träume“ erfahren. Mit gefühlten tausend Fragen an ihn betrete ich das Klassenzimmer. Die Tische stehen trotzig gestapelt an der Wand, bis auf einen, der den Stuhlkreis unterbricht und auf dem der Plattenspieler der Schule steht.
Neugierig am Fenster stehend, sehe ich jetzt aus einem braunen Wartburg Tourist zwei Männer aussteigen. Kein Zweifel! Das ist der Typ aus dem Fernsehen und von den zahlreichen Plattencover meiner Sammlung, aus denen ich unzählige Male die schwarzen Scheiben herausgezogen habe.
„Frank ist da.“, sage ich und setze mich zu den anderen. Frank ist da, wie das klingt. Als ob das ein Freund, ein Vertrauter, einer, den ich sehr gut kannte, sei. Wie wird er wirklich sein? Jetzt weit weg von den Flimmer- und Radiokisten, hier in meiner Welt, in meiner Schule, in meinem Klassenzimmer? Die Gedanken werden unterbrochen als jetzt die Magie, mit zwei Männern folgend, das Klassenzimmer betritt.
Mit einem: „Hallo, ich bin Frank und das ist mein Manager.“, stellt er seine in die Jahre gekommene Doktortasche ab, die auch die gleiche Farbe meiner Sandaletten hat. Ja, Frank ist wirklich da, denke ich mir. Kein Anzeichen von Starallüren, kein Ansatz von Oberflächlichkeiten sondern ein wahrnehmbares „Ich-bin-für-euch-hier-Gefühl“. Sein Leipziger Dialekt, passt zwar nicht zu dem Berliner Nummernschild seines Wartburgs, aber das ist auch das einzige was meiner Verprobung nicht standhält. Kein Zweifel, der Typ ist wirklich so toll. Während er über sich erzählt und uns nebenbei immer wieder ein Lied auf seiner Schallplatte vorspielt und sogar dazu noch mitsingt, verlieren wir stufenweise unsere Schüchternheit. Ich habe letztlich das Gefühl in Augenhöhe das Neueste aus dem DDR-Show-Business erfahren zu können. Seine Geschichten und seine Musik verwandeln mein tristes Klassenzimmer in eine funkelnde Show-Welt, die mich fortan einlud, in ihr meinen Sinn zu finden. Somit war mein Wunsch geboren, einmal das Gleiche tun zu wollen, wie Frank.
Und so starte ich tags darauf mit meinem Vorhaben. Nämlich, mit einer verstimmten Gitarre, an der nur drei Seiten aufgezogen sind und die von meinem schrägen Jaulen begleitet wird. Einfaches Nachsingen kam für mich nicht in Frage, da man ja immer mit dem Original verglichen werden könnte. Also stand für mich sofort fest, dass ich eigene Lieder erfinden muss.
Der erste Schritt war also gemacht. Doch dieser führte mich zunächst vor das große Tor, durch das man den grauen Alltag betritt. Und wie sicherlich viele meiner Altersgenossen, musste auch ich meine Wünsche und Träume gegen einen dieser Passierscheine eintauschen.
(Textauszug aus dem Roman zur Musikalischen Biografie)